Umsonst

 Wann haben Sie das letzte Mal etwas umsonst bekommen? Ich kann mich nicht daran erinnern. Mein Kinder – ja – die kriegen hin und wieder was umsonst: eine Scheibe Wurst beim Metzger, eine Brezel beim Bäcker – uns selbst die ist ja ein wenig verdient, durch ein unwiderstehliches Lächeln und endloses Gequengel. Aber ich? „Telefonieren fast für umsonst“ wird mir manchmal angeboten. Aber wenn ich dann das Kleingedruckte lese, stellt sich schnell Ernüchterung ein. Umsonst ist im Grunde gar nichts. Umgekehrt: Was ich im Leben bekomme, muss ich mir verdienen.

Ich glaube, dass sich diese Haltung tief in unser Bewusstsein eingeprägt hat. Bewusst oder unbewusst wenden wir sie auch auf die Menschen in unserer Gesellschaft an, die eigentlich keine Chance haben, sich etwas zu verdienen, weil sie zu alt sind, eine Behinderung haben oder zu oft im Leben schon Pech hatten. Da werden Menschen zum Kostenfaktor erklärt, zum Klotz am Bein der Gesellschaft. Da zählen nur noch Zahlen und Bilanzen. Und wenn die schlecht aussehen, ist man schnell dabei, die Schuld und die Verantwortung für die Versorgung den Betroffenen in die Schuhe zu schieben.
Ein Gegenbild dazu zeichnet ein Satz aus dem Buch der Offenbarung: Der auf den Thron saß, sprach: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
So ist Gottes Bild von uns Menschen – und zwar von jedem einzelnen: Wir sind Durstige, die vom wahren Leben meilenweit entfernt sind, und denen man umsonst geben muss, was sie brauchen. Der Begriff „Durstige“ lässt die Grenze verschwimmen zwischen Hilfsbedürftigen und denen, die scheinbar selber klar kommen.
Am wichtigsten in diesem Satz ist mir aber das Wörtchen „umsonst“. Für den christlichen Glauben ist es ein ganz zentrales Wort: Gott schenkt mir meinen Anteil am wahren Leben umsonst – ohne dass ich mir das verdient hätte oder mich dessen erst mal würdig erweisen müsste. Einfach umsonst. 
Die Erfahrung zeigt allerdings, dass es uns schwer fällt, das wirklich ernst zu nehmen. Wahrscheinlich sind wir einfach zu sehr von dem geprägt, was wir in unserer Gesellschaft erleben: umsonst ist nichts. Und so meinen wir, wir selbst und andere müssten immer noch selbst was dafür tun, dass Gott uns erlöst und uns wahres Leben schenkt.
Was aber wäre diese Erlösung wert, wenn sie nur auf Einzelne in der Welt reduziert wäre? Wie denke ich von Gott, wenn nur einzelne an dieser Erlösung Anteil haben?
Ich finde, das Umsonst des Glaubens fordert uns heraus, ein Bewusstsein für diejenigen zu entwickeln, die in unserer Gesellschaft nichts umsonst haben und es doch bräuchten.
Die Diakonie als eine der zentralen Lebensäußerungen von Kirche kann uns dabei eine Hilfe sein. Wer in der Diakonischen Bezirksstelle Hilfe und Rat sucht, wird nicht gefragt, ob er das verdient hat. Er bekommt, was er braucht – auch wenn er selbst noch gar keine Vorstellung davon hat, was das sein könnte. Aber Diakonie ist nicht nur auf professionelle Einrichtungen beschränkt. Diakonie beginnt und hat ihre Wurzeln in der Kirchengemeinde. Dort, wo der eine nach dem anderen schaut, für eine Stunde die Einsamkeit durchbricht oder das Gefühl, übrig und vergessen zu sein. Dort, wo der eine dem anderen für eine Stunde seine Menschenwürde wieder spüren lässt, weil er ihm zeigt: Ich habe Hoffnung für dich – und Gott auch. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Ich möchte dieses „umsonst“ wieder lernen – für mich selbst und im Blick auf andere. Vor allem aber im Blick auf Gott: Denn ich selbst bin ja auch ein Durstiger.
Clemens Grauer