Was uns stark macht ...

Wenn du mich jetzt nicht in Ruhe lässt, dann hole ich meinen großen Bruder. Ich habe immer die beneidet, die das auf dem Schulhof sagen konnten. Ich hatte keinen großen Bruder, der mich aus einer Notlage befreien konnte. Ich war der älteste. Aber gebraucht hätte ich es manchmal schon.

Es muss sich gut anfühlen, einen starken Partner auf seiner Seite zu haben: eine Versicherungsgesellschaft für die Pannen des Lebens oder eine Bank, die mir meine Träume finanziert. Oder auch nur ein Küchentuch, das nicht reißt, wenn es nass wird.

Mit Stärke wird gerne geworben. Auch in der Politik. Unserer Gesellschaft, unserem Gemeinwesen geht es gut, wenn starke Leute an der Spitze stehen, Leute, die zupacken können, die nicht bei jeder Schwierigkeit einknicken. Das wird in jedem Fernsehinterview, in jeder Diskussionssendung vermittelt. Gerade vor den Wahlen, die uns in diesem Jahr bevorstehen, versuchen die Kandidaten die Herzen der Wähler mit ihren Stärken gewinnen.

Unsere moderne Welt hat ein Herz für die Starken. Das geht bis in die sozialen Sicherungssysteme hinein. Wer informiert oder dreist genug ist, bekommt meist irgendwie, was er braucht, selbst von der ARGE. Aber wem die Kraft ausgeht, zum 20. Mal gegen den Hartz IV-Bescheid Einspruch zu erheben, der hat schlechte Karten.

Ein Satz aus dem Jesajabuch hat mich in dieser Beziehung nachdenklich gemacht: Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. (Jes 58,10)

Wenn du den Hungrigen dein Herz finden lässt ... dahinter verbirgt sich eine Lebens- und eine Glaubenserfahrung.

Die Lebenserfahrung: Eine Gemeinschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Mitglieder. Werden die vernachlässigt, dann sieht es schnell finster aus. Mir fallen dazu meine eigenen Erlebnisse aus dem Unterricht an der Grund- und Hauptschule ein. Kinder, die kaum lebensfähig sind werden in viel zu große Klassen mit vielen anderen Kindern gesteckt, denen es genauso geht. Und diese Kinder werden eines Tages wieder Kinder haben. Alle sagen, man müsste das anders machen. Man bräuchte mehr Lehrkräfte. Aber so ist eben das System. Also schlagen sich alle von Montag bis Freitag durch, Schüler und Lehrer, und hoffen, dass der Schaden möglichst gering bleibt. Wenn Jesaja Recht hat, ist der Schaden unermesslich. Wenn du die Schwachen dein Herz finden lässt ... das rechnet sich nicht in Euro und Cent. Aber es rechnet sich menschlich und lohnt sich immer. Ich muss mir das manchmal sagen.

Die Glaubenserfahrung: Gott hat ein Herz für die Schwachen. Zuallererst für mich, für meine Schwächen, die ich ja sonst nicht zeigen darf. Bei Gott dürfen sie sein, ja sollen sogar sein, sonst bräuchte ich ja Gott nicht. Wenn ich schwach bin, ist Gott mir am nächsten. (Not lehrt beten). Ich wünsche unserer Gesellschaft, dass wir lernen, unsere Schwächen und unsere Schwachen wert zu schätzen und mit ihnen gemeinsam Gesellschaft bauen anstatt sie zu verstecken. Denn das wird sich eines Tages rächen. (Eine Kette reißt nämlich immer an der schwächsten Stelle.) Und es wäre schade, weil es uns immer weiter von Gott entfernt, wenn wir unsere Schwachen und unsere Schwächen nicht unser Herz finden lassen.

 

Pfr. Clemens Grauer, Frauenzimmern