Die leuchtende Kraft

 

    Der leuchtenden Kraft dieses Bildes kann sich wohl kaum jemand entziehen, so außergewöhnlich und pl­astisch stellt uns der Künstler den Sieg des Lebens über den Tod dar. Matthias Grünewald sollte 1516 einen Altar bemalen für das damalige  Isenheimer Kloster der Antoniter im Elsass. Die Mönche des Klosters hatten sich ganz der Krankenpflege verschrieben und ihr Kloster zu einem Krankenhaus mit Pflegeabteilung eingerichtet. Der Künstler hat sich von den Eindrücken des Klosterlebens bestimmen lassen und danach seinen Altar gestaltet. Neben einer tiefsinnigen und den Betrachter aufwühlenden Darstellung Jesu Christi am Kreuz setzt er noch einen zweiten Schwerpunkt mit einem Auferstehungsbild. In der Mitte des Altars steht der Gekreuzigte, der Wundmale trägt wie die Kranken im Kloster. So nahe kommt Gott denen, die leiden, dass ER in seinem Sohn Jesus Christus ihre Wunden und Narben an sich trägt, bis zur letzten Konsequenz des Sterbens am Kreuz. Das wird denen zum Trost und zur Ermutigung vor Augen gemalt, die auf die Hilfe und das Erbarmen der pflegenden Mönche angewiesen sind – nicht anders als wir heute angewiesen sind auf Ärzte und Pflegekräfte. Manche unter denen, die zu den Gottesdiensten damals in die Klosterkirche herein getragen wurden, hatten nur noch das Schwinden aller Kräfte und das Hinscheiden aus dieser Welt vor Augen – und gerade dann sollte ihr Blick auf den fallen, der am Kreuz sein Leben für uns dahingibt.

 

    Diese Erfahrung mag für Matthias Grünewald einer der Gründe gewesen sein, warum er sich noch an die Fortsetzung der Geschichte gewagt und ein Auferstehungsbild erstellt hat. Folgt man dem Zeugnis der Evangelien, dann hat sich Gott nicht damit begnügt, das Leiden von Menschen auf sich zu nehmen und solidarisch mitzuleiden. Gott hat über Kreuz und Grab hinaus den Tod überwunden zu neuem Leben.

                                                                                    

    Gott setzt allen Kräften des Zerstörens seine leuchtende Lebenskraft entgegen. Gottes Kraft entreißt Jesus dem Tod und holt IHN herein in das helle Licht Gottes – wo pures Leben herrscht, unzerstörbares Leben. Wie lassen sich Auferstehung und neues Leben ins Bild fassen oder in Worte? Übersteigt es nicht unseren menschlichen Horizont, so dass wir sprachlos werden müssten und ausdruckslos? Es muss ein Moment seltener Eingebung und Gnade gewesen sein, als dem Künstler die Idee in den Pinsel floss und er sein Bild der Auferstehung geschaffen hat. In der Leuchtkraft des Auferstandenen spricht plötzlich das Wort, das er selbst vorgegeben hat: „Wenn ich erhöht werde, so will ich alle zu mir ziehen“.

 

    Welche Kräfte ziehen denn an uns jeden Tag? Welche Kräfte zerren an uns von allen Seiten? Davon mögen die ein Lied singen, die sich zeitgleich um Kinder oder Enkel kümmern und dabei noch die häusliche Pflege bewältigen an einem lieben Angehörigen. Von den ziehenden und zerrenden Kräften können wir alle etwas sagen, die wir in vielerlei Pflichten drin stecken. Ihnen und uns möchte der mit den schönsten Farben spielende Künstler eine andere Kraft aufzeigen und wohl auch anbieten: die Kraft des Lebens, die von Gott ausgeht - die Kraft der Liebe, die stärker ist als der Tod. Diese Kraft bündelt sich in dem, der sich kreuzigen lässt, um für uns das Grab zu verlassen und den Tod zu besiegen. In IHM kommt zusammen, was ansonsten nicht zusammen finden kann: Erniedrigung und Erhöhung, Vergehen und Auferstehen, Sterben und neues Leben. Sein Weg umspannt das Ganze eines Lebens und weit darüber hinaus. Mit IHM kommt das Heil der Welt zum Zug. Durch IHN greift Gott definitiv ein in die Geschichte und in die Lebensgeschichten: in Jesus Christus ereignet sich Versöhnung und neues Leben. Bei IHM öffnet sich die Tür zur Erlösung, wenn die Kräfte schwinden. In IHM finden Menschen wieder zu Gott zurück. Seine zum Segnen ausgebreiteten Arme sind weit offen, um alle in die Arme zu schließen, die IHN brauchen: „wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“.

 

    Die Christenheit hat diese Zugkräfte der Liebe und des Lebens nicht allein auf Ostern konzentriert, sondern ausgeweitet auf die sieben Wochen von Ostern bis Pfingsten. An jedem der sieben Sonntage, an Himmelfahrt und am Pfingstfest soll das Lob erschallen auf den, der die wunderbare Ziehkraft der Liebe Gottes in diese Welt und in unser Leben bringt.

 

Diese beglückende Erfahrung wünscht Ihnen Ihr

 

    Dekan Jürgen Höss, Brackenheim

 

Auferstehung Jesu Altarbild Isenheimer Altar von Matthias Grünewald

Auferstehung Jesu

Altarbild Isenheimer Altar

von Matthias Grünewald

 

Christus spricht:

Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen. (Johannes-Evangelium 12,32)