Farbe bekennen

Meine erste Begegnung mit Ingera hatte ich, als ich ungefähr 12 Jahre alt war. Es war bei einem Gemeindemittagessen. Ingera, das war ein Maisfladen auf einem Teller mit einer ordentlichen Portion heißer, fremdartig duftender Fleischsoße darauf. Ein Nationalgericht aus Eritrea, gekocht von Menschen aus diesem Land, die seit einiger Zeit in unserer Stadt lebten. Ingera verwirrte mich. Anders als die Maultaschen meines Tischnachbarn kam es nämlich ohne Besteck daher. Hilflos saß ich vor meinem Teller und bereute schon, mich darauf eingelassen zu haben. Doch dann kam einer der eritreischen Mitbürger, riss kurzerhand ein Stück von dem Fladen auf meinem Teller, füllte ihn geschickt mit meiner Soße und schob ihn sich in den Mund. Ich war so verblüfft, dass ich gar nicht anders konnte, als ihn nachzuahmen. Von da an hatte ich mit Ingera Freundschaft geschlossen und die Menschen aus Eritrea hatten für mich viel von ihrer Fremdheit verloren. 

Ich denke, eine solche Scheu vor allem, was fremd ist, besonders vor fremden Menschen, kennt jeder. Wir haben uns im Laufe unseres Lebens unsere Welt zurechtgelegt. Es gibt Dinge, die da hinein gehören, die uns vertraut sind und mit denen wir umgehen können. Aber Dinge und vor allem Menschen, die uns fremd sind, weil sie eine andere Hautfarbe haben, einer anderen Kultur oder Religion angehören, verunsichern uns leicht. Leider geschieht es immer wieder, dass diese Unsicherheit in Ablehnung umschlägt. Aus lauter Scheu fällen wir dann Vorurteile über Menschen, die persönlich kennenzulernen wir uns nie die Mühe gemacht haben. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind da nicht mehr weit.

Die Bibel lehrt uns einen anderen, unverkrampfteren Umgang mit Fremden und Fremdem. Es liegt sicher in der Geschichte des jüdischen Volks begründet, dass die Fremden im Alten Israel besonders respektiert wurden: „Die Fremdlinge sollst du nicht unterdrücken; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid.“ (2 Mose 23,9) Auch Jesus machte sich diese Haltung zueigen. Immer wieder wird erzählt, dass er gerade auf die Außenseiter und Fremden zuging und sie nicht ausgrenzte.

Im Blick auf unsere gegenwärtige Situation lässt sich die biblische Botschaft mit zwei Stichworten auf den Punkt bringen:

Rassismus erkennen - Farbe bekennen.

Rassismus erkennen.

Das bedeutet, dass wir bei uns selbst, aber auch bei anderen sehr genau darauf achten, wohin das Pendel unserer natürlichen Scheu vor Fremdem ausschlägt. Lassen wir es zu, dass andere diese Scheu aus politischen Interessen in Angst verwandeln? Oder gelingt es uns, unsere Scheu in Interesse, Anteilnahme und Toleranz zu verwandeln?

Rassismus erkennen.

Dazu gehört auch die Einsicht: In unserer globalisierten Welt ist „ein friedvolles Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religion oder kultureller Prägung … nur möglich, wenn man sich wechselseitig Respekt und Achtung entgegenbringt. Soziale Gerechtigkeit, Entfaltungsmöglichkeit, Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander und die Bereitschaft zu Austausch und Dialog sind wichtige Voraussetzungen, dass dies gelingen kann. Wer sich dafür einsetzt, ist nicht naiv, sondern handelt politisch klug und weitsichtig, auch wenn sich Enttäuschungen einstellen sollten.“ (Gemeinsames Wort der Kirchen zur Interkulturellen Woche 2002)

Farbe bekennen.

Wir alle können dazu beitragen, dass in unserer Gesellschaft eine Atmosphäre entsteht, in der Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit keinen fruchtbaren Boden finden.
·        Dazu gehört, dass wir uns nicht beeindrucken lassen, wenn die Situation fremder Menschen in unserem Land zum Gegenstand politischer Machtspiele wird.
·        Dazu gehört auch, dass wir pauschalen Vorurteilen keine Chance geben, dass wir nachfragen und uns informieren.
·        Dazu gehört schließlich, dass wir hinsehen und hingehen, wenn Menschen in unserem Umfeld wegen ihrer Verschiedenheit gering geschätzt, benachteiligt oder bedroht werden.
Das fällt nicht immer leicht und kostet manchmal Überwindung, aber es ist gewiss eine Bereicherung. Und Jesus hat nirgendwo versprochen, dass der Weg zum Reich Gottes ein Sonntagsspaziergang sei.

 

Clemens Grauer, Frauenzimmern