Erwählt

Freundschaften beruhen ja in der Regel auf Gegenseitigkeit. Sie leben davon, dass zwei Menschen einander sympathisch sind, gemeinsame Interessen haben und wissen, dass der jeweils andere für einen da ist, wenn’s darauf ankommt.
Mit unserem Verhältnis zu Jesus ist das allerdings etwas anderes. Im Johannesevangelium beschreibt Jesus es so: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ (Joh 15,16) Wer aus dem Glauben an Jesus Christus leben kann, wer aus seiner, aus seiner Liebe und Vergebung immer wieder neue Kraft schöpft, der kann das nicht deshalb, weil er sich besonders um Jesu Freundschaft bemüht oder verdient gemacht hat. Der Grund dafür ist vielmehr, dass er weiß: Jesus hat mich erwählt, er wollte mit mir etwas zu tun haben. Dieses Wissen hat eine besondere Kraft und kann Menschen verändern. Wie – davon erzählt die folgende Geschichte:
Ein Pfarrer erzählt: Bei ihm um die Ecke wohnt eine Rentnerin, Frau Rick. Die beiden mögen sich, und ab und zu, wenn sie sich begegnen, halten sie ein Schwätzchen miteinander. Und eines Abends, kurz vor Geschäftsschluss, kommt Frau Rick dem Pfarrer auf der Straße mit prall gefällten Einkaufstaschen entgegen, und sie ist so in Eile, dass sie fast an ihm vorbeiläuft. Der Pfarrer grüßt sie: „Guten Abend, Frau Rick, wie geht's?“ „Ach“, sagt sie, „guten Abend, Herr Pfarrer. Entschuldigen Sie, aber ich habe ganz wenig Zeit.  Ich muss noch soviel besorgen, denn, wissen Sie, morgen kommen ja die Kinder aus Ungarn, die bei uns Ferien machen sollen. Und jetzt, wo ich Witwe bin, da habe ich mir gedacht: Ich kann mir ja auch so ein Ferienkind aus Ungarn nehmen. Ach, und dann machen wir es uns ganz schön. Dann fahren wir mal raus zum See und gehen spazieren, und ich gehe auch mal mit ihm in die Eisdiele.  Und wissen Sie, Herr Pfarrer, ich weiß auch schon ganz genau, was für ein Kind ich mir wünsche. Es gibt da so süße kleine Jungen, so mit schwarzen Haaren und mit so großen schwarzen Kulleraugen, wissen Sie, so einen hätt‘ ich gerne. Und dann machen wir uns so richtig schöne drei Wochen. Also machen Sie's gut, Herr Pfarrer, ich muss schnell weiter.“
Zwei Tage später, als der Pfarrer wieder die Straße entlang kommt, trifft er Frau Rick, neben sich ein etwas hoch aufgeschossenes Mädchen, ungefähr 12 Jahre alt, die glatten blonden Haare etwas fettig und strähnig und mit ein paar Pickelchen im Gesicht. Und er sagt: „Guten Tag zusammen.“ „Guten Tag, Herr Pfarrer,“ sagt Frau Rick, „das hier ist Maria. – Maria, sag dem Pfarrer guten Tag. – Ich hab' Ihnen ja erzählt, dass ich da so ein Urlaubskind aus Ungarn kriege. Na ja, da haben sie mir halt die Maria zugeteilt. Also, für den See ist es ja sowieso noch zu kalt.  Aber sie kann ja mit den anderen Kindern spielen, und irgendwie werden die drei Wochen schon rumgehen – also bis dann, Herr Pfarrer.“ Die Enttäuschung ist Frau Rick förmlich ins Gesicht geschrieben. So hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Am nächsten Tag kommt der Pfarrer an der Eisdiele vorbei und traut seinen Augen nicht: Da sitzt Frau Rick mit der Maria, und beide lachen und schäkern und scheinen ein Herz und eine Seele zu sein. Und als Frau Rick den Pfarrer sieht, da klopft sie von innen gegen die Scheibe und winkt ihn herein. Dann sagt sie zu Maria: „Du wolltest doch noch Postkarten kaufen, mein Kind, geh doch schon mal rüber an den Kiosk und lass Dir ruhig Zeit, ich muss dem Pfarrer gerade noch etwas erzählen. Und Sie, Herr Pfarrer, setzen Sie sich doch einen Augenblick zu mir.“ „Tja,“ sagt der, „da bin ich aber gespannt.  Ich merke schon, es ist ja alles ganz verändert.“ „Ja,“ sagt Frau Rick, „also passen Sie auf, ich muss Ihnen das erzählen. Ich war nämlich gestern Abend noch mal bei der Einsatzleiterin von der Kinderverschickung, die wohnt nämlich bei uns um die Ecke. Und bei der hab' ich mich beschwert. Ich hab' ihr gesagt: ‚Hören sie mal, warum haben Sie mir denn die Maria gegeben? Sie wussten doch, dass ich so einen süßen kleinen Jungen wollte, so mit schwarzen Haaren und mit großen Kulleraugen. Und es gab ja auch solche im Zug. Warum haben Sie mir dann ausgerechnet die Maria angedreht?‘ Da sagt die Einsatzleiterin zu mir: ‚Passen Sie mal auf, Frau Rick, das war so: Ich war ja mit den Kindern im Zug. Und als sich dann der Zug dem Bahnhof näherte, da guckten alle Kinder raus und sahen sich die Gasteltern an. Und da hat Maria auf Sie gezeigt und gesagt: ‚Zu der Tante möcht' ich.‘ Stellen Sie sich mal vor, Herr Pfarrer, die wollte zu mir! Ich meine, da warteten doch richtig junge Familien, und manche waren mit dem Auto vorgefahren, und eine hatte sogar ihren Hund mitgebracht. Und trotzdem wollte die Maria zu mir! Ja, und seit ich das weiß, habe ich sie richtig lieb.“ „Sehen Sie,“ sagt der Pfarrer, „da haben Sie wieder was gelernt, Frau Rick.  Und wenn Sie heute Abend in ihrer Bibel lesen (Frau Rick liest übrigens jeden Abend in der Bibel), dann schlagen Sie doch mal das fünfte Buch Mose auf. Dort steht nämlich: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“
Clemens Grauer