Der Stein

 

Eigentlich diente sie nur als Speisesaal für die Laien, die große Halle durch die wir das Zisterzienser-Kloster Fontfroide in Südfrankreich betraten. Eigentlich ist es nur ein einfacher Stein,  der mir darin auffiel. Sechs Mal gibt es diesen Stein in der Halle. Er hat eigentlich nur statische Funktionen – und doch weckte er mein Interesse, meine Bewunderung:

Wie genau müssen die Steinmetze vor 800 Jahren gearbeitet haben, um diesen Schlussstein herzustellen – diesen Stein, der die Last der gewaltigen Decke und der Räume darüber trägt – der ihre Last auf die vier Halbbögen ablenkt, die das wunderbare Kreuzgewölbe ergeben.

 

Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Stein kreuzförmig ist. Das verlangt die Statik – schließlich laufen hier vier Bögen zusammen. Zugleich weist aber das Kreuz auf den Gekreuzigten, dem diejenigen, die in diesem Saal aßen, diejenigen, die dieses Kloster bauten, dienen wollten. Das Kreuz hält ihren Bau zusammen – den aus Steinen, und den aus Menschen.

 

Im Epheserbrief wird das sehr schön beschrieben: So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist! (Epheser 2, 19+20) Lesen wir da. So wie in diesem Gewölbe alle vier Bögen auf das Kreuz zulaufen, so haben wir als Gemeinde, als Kirche unsere Mitte und unser Zentrum im Kreuz Jesu.

 

Das klingt so selbstverständlich. Der Epheserbrief erinnert uns aber daran, wie vielgestaltig und verschieden die Menschen sein können, die zur Gemeinde Jesu gehören: Keiner von ihnen bleibt aber außen vor, bleibt Gast – oder Fremdling, sondern sie alle sind gehalten in diesem Eckstein – in Jesus Christus. In der Gemeinde Jesu gibt es also keine Insider und Outsider, keine Unterscheidung zwischen passiven und aktiven Mitgliedern. Wenigstens soll es das nicht geben, wenn wir dem Apostel Paulus folgen – und soll sich keiner so fühlen. Das ist eine große Herausforderung an die Gemeinde: Sie braucht kein weites Herz oder viel Toleranz. Sie braucht nur eines, sie muss ernst damit machen mit dem, was die Steine im Gewölbe in dem alten Kloster so selbstverständlich tun: Sich tragen lassen, halten von dem Eckstein, den wir uns nicht selbst gewählt haben, den uns vielmehr Gott gesetzt hat, von Jesus Christus. Dann wird sich Weite und Toleranz einstellen, dann werden wir staunen, wie verschiedene Richtungen zusammenkommen in der einen Mitte – und wie in ihr alle zusammenfinden.

 

Das habe ich wenigstens von diesem Stein im Kloster Fontfroide gelernt. Und noch eines: Es lohnt sich genau hinzuschauen, wenn wir die alten Gebäude und Sehenswürdigkeiten besichtigen – manchmal liegen die wichtigsten Dinge in den unscheinbaren Details.

 

Herzliche Grüße!

 

Ihr

        Pfarrer Jörg Kohler-Schunk

Schlussstein aus dem Laienrefektorium des Zisterzienserklosters Fontfoide bei Narbonne (Foto: privat)
Schlussstein aus dem Laienrefektorium des Zisterzienserklosters Fontfoide bei Narbonne (Foto: privat)