WAS IST DEIN PREIS?

 

Gedanken zum Isenheimer Altar

 

Der Blick auf diese außergewöhnliche Kreuzesdarstellung bringt uns in die Nähe eines Geheimnisses: „Was ist Dein Preis? Für was bezahlst Du, dass Dir ein solches Leiden und Lebensende zugeteilt wird? Welches Pfand hast Du einzulösen? Worin liegt die Ursache, dass Du solche Qualen erdulden musst? Gibt es keinen anderen Weg? Welche Schuld wird beglichen um diesen Preis?“

 

            Zwei Menschen könnten wir die Frage nach dem Preis stellen. Zwei, die Einblick haben in das Geheimnis, das dieses Geschehen umgibt. Der Eine ist auf dem Bild  ganz groß zu sehen, mit seinem überlangen Zeigefinger: der Täufer Johannes, von dem wir das biblische Wort aus Joh. 1,29 haben: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“. Wie in einem Brennglas, das alle Strahlen an einem Punkt bündelt, bringt Johannes mit diesem Wort auf den Punkt, was der Preis und was das Geheimnis ist: der am Kreuz ist nicht etwa ein schuldig Verurteilter; er bekommt auch nicht, was er verdient.

 

            Der am Kreuz ist Gottes Lamm, das aller Welt Sünde trägt. Der am Kreuz ist der Eine, der den Graben der Gottferne zuschüttet, von Gottes Seite her. Jesus ist der Eine, der mit seiner Hingabe ins Leiden den Zugang öffnet zu Gottes brennender Liebe. ER ist der Eine, der die von Gott entfremdende Einsamkeit des Menschen durchbricht, sei sie gewollt oder ungewollt. Das ist das Geheimnis des Lammes: Jesus Christus verschafft uns den Zutritt zum Herzen und zur Gnade Gottes. ER überwindet die Sünde und schüttet den „Sund“ (i.e. das alte Wort für „tiefer Graben“) der Gottferne zu. ER baut uns eine Brücke von Gott her. Dafür setzt ER nichts weniger ein als sein Leben - das ist sein Preis!

 

Die zweite Person, die wir fragen könnten, ist der Künstler Matthias Grünewald. Er hat 1516 den Isenheimer Altar mit dem Kreuzigungsbild gemalt für das damalige Antoniterkloster. Heute ist der Altar im Museum in Colmar zu bewundern. Matthias Grünewald bringt in künstlerischer Freiheit und geistlicher Einsicht den Täufer Johannes mit auf das Kreuzigungsbild, obwohl Johannes zur Zeit von Jesu Verurteilung nicht mehr am Leben gewesen ist. Für ein Kloster, dessen Mönche sich ganz der Pflege von Siechen und unheilbar Kranken gewidmet haben, sollte der Blick auf Jesus Christus, den „Schmerzensmann“ (vgl. Jesaja 53), zum Trost und zur Ermutigung dienen – für die Kranken und die Pflegenden. Ungeschminkt, in allen Details und für den Betrachter fast abstoßend, zeigt Grünewald den sterbenden Christus in seiner Leidensbereitschaft. Der Schmerz, den sein Tod auslöst, ist abzulesen in den Gesichtern und der Haltung der Maria Magdalena und der Mutter Jesu, die vom Jünger Johannes gestützt wird.

 

            Dahinter steht wieder die Frage: „Was ist Dein Preis?“ Sind die Leiden und Schmerzen der Preis, den Gott freiwillig bezahlt bei seiner Menschwerdung? Den Gott in Jesus Christus auf sich nimmt, um uns eigenständigen und doch so anfälligen und hinfälligen Menschen ganz nahe zu sein? Der Täufer Johannes dient dem Künstler Matthias Grünewald dafür, um unseren Blick auf den Einen in der Mitte, auf den Mann am Kreuz, zu konzentrieren. Ja, um unser ganzes Leben auf IHN zu konzentrieren. Christus ist der Eine und Einzige, der sich dem Leiden und der Schuld des Menschen in der Weise stellen kann, dass ER es auf sich nimmt und „erträgt und hinweg trägt“ (vgl. noch einmal Jesaja 53). Als „Lamm Gottes“ – scheinbar stumm und wehrlos, ohne Gewalt und Aggression, in Geduld und voll unendlicher Liebe.

 

            Der Zeigefinger des Täufers trifft sich mit dem, was Martin Luther im Jahr der Fertigstellung des Isenheimer Altars 1516 an seinen Freund Georg Spenlein in Memmingen schreibt: „Darum, mein lieber Bruder, lerne Christus, und zwar den Gekreuzigten; lerne ihm singen und in der Verzweiflung an dir selbst zu ihm sagen: Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin deine Sünde“. Der Täufer Johannes von Matthias Grünewald und Martin Luther sind sich einig im Zentrum der reformatorischen Botschaft – in der Ausrichtung auf Jesus Christus: Allein der Glaube, allein Christus. Für uns bedeutet das: der Preis ist schon bezahlt, die Tür ist offen für eine heilvolle Beziehung zu Gott, für „Leben und Seligkeit“. Was für ein Segen!

 

Meint mit herzlichen Grüßen

 

Ihr

          Dekan Jürgen Höss, Brackenheim

 

„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Johannes-Evangelium 1,29
„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Johannes-Evangelium 1,29